JAANI: Die Sonne war schon fast hinter den Häusern am Horizont versunken, als Mama von unten “Schatz, es ist Schlafenszeit!” hoch rief und kurz darauf ergänzte, dass sie gleich käme, um mir Gute Nacht zu sagen.
Oh! Ich blicke von meinem Buch auf, in dem ich gelesen hatte und wusste, wenn ich ordentlich Schlafanzug und Zähne putzen hinter mich bringen würde und sie lieb anlächelte, dann würde es sogar noch eine Vorlesegeschichte geben. Ich freute mich darauf und schwang mich vom Schreibtischstuhl, griff nach dem Schlafanzug, der unter meinem Kopfkissen lag und lief ins Bad. Vielleicht könnte ich mit Mama sogar noch etwas im neuen Buch blättern und ihr darin zeigen, was mich so in den Bann zog.
Ich wohne mit Mama und meinen zwei kleinen Zwergkaninchen seit kurzem in unserem neuen Zuhause, einem Vorort bei Dörflingen. Papa wohnt woanders. Du kannst an manchen Wochenenden zu Papa zu Besuch gehen, versprach Mama mir, als wir mit dem ganzen Gepäck und dem Möbelwagen von zuhause wegfuhren. Das war vor drei Monaten und 12 Tagen. Vieles ist anders seitdem.
Ich schaue auf die Badezimmeruhr auf der Ablage, es ist fast 21 Uhr. Wäre es jetzt Wochenende, wäre das sicherlich nicht weiter schlimm. Tatsächlich ist heute erst Dienstag und morgen deswegen Schule. Dabei bin ich schon 10 Jahre alt und andere sagen mir immer, dass ich aber groß sei für mein Alter. Ich weiß nicht genau ob das, was sie da über mich sagen etwas Gutes ist oder nicht, in meiner Schulklasse bin ich jedenfalls von allen der zweitgrößte, nur Luca ist noch größer, aber der ist auch schon 11.
Ich husche zurück in mein Zimmer, hole das neue Buch vom Schreibtisch und stolpere fast in mein Bett als Mama schon zur Tür hineinkommt. “Na, mein Großer” sagt sie. “Es ist schon ziemlich spät”. Sie sieht durchs Fenster zum dunklen Himmel hinauf, bevor sie die Gardinen zuzieht und sich zu mir ans Bett setzt. Ich halte ihr gespannt das Buch hin und hoffe, dass sie mir noch daraus vorliest. “Oh, das neue Buch, es gefällt Dir wohl” fragt sie mich und ich nicke eifrig. “Okay, ich lese vor, aber nur eine ganz kurze Geschichte, einverstanden?” Sie lächelt und wartet, bis ich mich richtig eingekuschelt habe, dann beginnt sie zu lesen.
Ich werde wach, weil mich etwas im Gesicht kitzelt, ich versuche schlaftrunken das Gekitzel mit meiner Hand vom Gesicht zu wischen, als ich zusätzlich von irgendwo her meinen Namen höre, es klingt sanft und zauberhaft in meinen Ohren. Ich blinzele ins Dunkel des Zimmers und setze mich auf. Was war denn das?
Babette: Ein Flirren neben meinem Ohr, und wieder hört es sich an, als würde mein Name gerufen. Ganz leise und zart ertönt er, “Nicolas, wach auf“. Irgendwie klingt es französisch. Die meisten sprechen den Namen falsch aus und manche machen sich auch lustig darüber. Ich schalte das Licht an und reibe mir die Augen. Denn das, was ich sehe, erscheint mir unwirklich. Eine Riesenlibelle? Ich bin verwirrt, es sieht aus wie ein Feenwesen, seltsam gekleidet, mit Rüschen und Röcken, als würde es tanzen gehen wollen. Ein Wunder, dass es fliegen kann mit solch einer üppigen Kleidung. Es schwirrt mittlerweile auf einer Stelle in der Luft vor meiner Nase und ich erblicke runzlige Haut, ein gütiges Gesicht, erschöpft und irgendwie abgekämpft und gleichzeitig zufrieden. Und sehr alt. Uralt.
Es – er – sie? blickt mich direkt an und eine Zuneigung macht sich in mir breit, ein Gefühl, dass ich diesem Wesen vertrauen kann. Es blinzelt mir verschwörerisch zu und gleichzeitig klickert es gegen die Fensterscheibe. Als werfe jemand Kiesel dagegen, um eingelassen zu werden. „Na bitte, da ist bereits ein Teil der Wunscherfüllung des Zaubers“, sagt es und ich gerate ins Staunen. Will wirklich jemand eingelassen werden? Und wer? Vielleicht eine neue Freundin? Die könnte ich gut gebrauchen, in der neuen Schule läuft es noch nicht so gut nach dem Umzug.
Christoph: „Wunsch“? „Zauber“? Was meint die – die Libelle, die alte Tante, die Hexe, die Werweißwasnoch? Erinnert mich an Dumbledore, sieht ja auch alt und ganz nett aus, vielleicht ist sie seine Frau. Aber der Krach nervt, es klickert immer stärker gegen das Fenster, was ist das? Ich muss aus dem Bett und die Gardine wegziehen, die Mama vorhin zugezogen hatte. Ich schlafe ja sowieso viel lieber bei offenem Fenster, außer wenn der Vollmond hereinscheint … Was ist da los? Was ist das für eine irre Show? Draußen tanzen ja Tausende von diesen Libellen in der Luft, ein Gesummse, eine Musik, und ein Geklicker, wenn so ein komisches Teil an die Scheibe stößt! Fliegen können die ja richtig gut, aber es sind so viele, dass manche rausgeschleudert werden aus der Riesenrunde und dann knallen sie bei mir an die Scheibe und machen ein dummes Gesicht. Aber sie fliegen weiter, das macht denen nichts aus. Ich muss das Fenster aufmachen!
Ein Griff, ein Ruck, das Fenster ist offen – alles ist weg! Unten liegt unser kleiner Garten hinter dem Haus, es ist so dunkel, dass ich nur sehen kann, was ich gut kenne, hinten der Kaninchenstall, und da liegt ja mein Fahrrad, das ich gestern auf den Rasen geworfen habe – und wo sind alle die tanzenden summsenden klirrenden Wesen plötzlich hin? Alles still und leer, nur unser Garten im Halbdunkel…Mama ist bestimmt noch wach und Licht fällt aus unserem Wohnzimmer nach draußen.
Morgen muss ich Luca fragen, ob der so etwas auch schon einmal erlebt hat. Der erzählt in der letzten Zeit schon mal Storys, was er alles in der Nacht sieht, nicht nur, was man so träumt, sondern viel deutlichere und wildere Sachen. Er hat mich neugierig gemacht. Gestern, als er wieder angegeben hat und ich ihn genervt habe, hat er ganz auf Geheimnis gemacht und ein Spezialhandy aus seinem Rucksack gezogen und gesagt: das leih ich Dir bis morgen, aber du darfst niemandem etwas davon erzählen. Er hat auch den Namen Elon Musk genannt, ich weiß nicht mehr genau warum, aber wir haben uns schon manchmal über den unterhalten. Der bringt ja so ne Maschinen raus, die direkten Kontakt in Dein Hirn aufnehmen und dann erlebst Du Dinge, die Du Dir nie vorstellen könntest, und alles ist ganz direkt da wie im wirklichen Leben!
Das geht aber nur, hat Luca gesagt, wenn Du eine Glasscheibe vor dir hast, einen Spiegel oder eine Fensterscheibe, die sind dann wie ein 3D-Fernsehschirm. Morgen geb ich ihm das Teil zurück und erzähl ihm, was passiert ist. Jetzt bin ich auf einmal richtig müde, gute Nacht alle, alle Libellen, alle Musks und Lucas, gute Nacht, Mama – machst Du mir morgen wieder so eine leckere Frühstücksbox für die Schule?
Paul Roland: Den Rest der Nacht habe ich tief und gut geschlafen! Sofort nachdem ich aus meinem Bett aufgestanden bin, Fenster und Vorhang waren noch offen, stand ich am Fenster und atmete die frische Morgenluft. Die Sonne versteckte sich noch etwas hinter einer großen, weißen Wolke – ich blickte zum Himmel, konnte aber bis auf einen, hoch oben fliegenden schwarzen Raben, keine weiteren Flugobjekte, ähnlich der, der vergangenen Nacht wahrnehmen.
Luca und ich trafen uns, wie jeden Morgen auf dem Weg zur Schule, auch an diesem Tag an der alten Müller-Scheune. Mir fiel sofort ein übergroßes Brillengestell, mit nur noch einem dicken, runden Glas auf Lucas Nase auf und ich fragte ihn leicht verwundert, was es denn mit dieser Brille auf sich hat! Die hab ich gerade hier neben dem alten Scheunentor im hohen Gras gefunden, antwortete er und rückte sich dieses ‚Ungetüm‘ von Brille auf seiner Nase ein wenig zurecht. Ich stellte mich direkt vor Luca, wir schauten uns an, und ich konnte für einen kurzen Augenblick, auf dem einen noch vorhandenen Brillenglas, schemenhaft – für mich unerklärbar -, die Zahl 238 erkennen.
Kay: 238? Ich dachte nach! Woran erinnerte mich das nur? Dann fiel es mir siedend heiß ein. Vor ein paar Tagen hatte ich irgendwo in einer alten Bücherkiste gestöbert und ein Buch mit einem seltsamen Titel gefunden. Neugierig las ich darin. Es ging um ein Geheimnis, das es zu lüften gab und einem Zauber. Ich erinnerte mich, dass ich damals darüber lachte und laut sagte, dafür bräuchte ich einen Beweis. Ich glaube das erst, wenn lauter Libellen um mich herumfliegen und Luca plötzlich so eine alte Brille wie mein Opa trägt. Aber das war doch verrückt! Das konnte doch nicht sein! Sollte ich Luca davon etwas erzählen? Ich hatte das Buch wieder zurück in die Bücherkiste gelegt, dass weiß ich noch.
Ich gab Luca sein Handy zurück und erzählte ihm von den Libellen, die in der Nacht um mich herumgeflogen sind. “Hat das dein Handy gemacht?”, frage ich Luca. Er schaute mich mit großen Augen an. “Nein, das Ding kann etwas in 3D an einer Fensterscheibe in die Luft zaubern, aber keine Libellen. Eigentlich sollte ein Gespenst auftauchen, wenn du das Licht ausgemacht hast, um dich zu erschrecken. Das ging wohl daneben. Aber was war das mit den Libellen?”, fragte mich Luca neugierig?
Aufgeregt erzählte ich Luca davon. Von dem Buch in der Bücherkiste, von den Libellen und schließlich von der Brille und der Zahl 238. Er konnte es kaum glauben und schaute sich die Brille noch einmal genau an. Ja, da war wirklich eine 238 eingraviert. “Wo hast du das Buch?”, fragte er mich gespannt. Ich erzählte von der alten Bücherkiste und dass ich das Buch dort gelassen hatte. Er stöhnte und sagte, wir müssten das Buch unbedingt holen. Ich versprach ihm, nach der Schule mit ihm dorthin zu fahren und hoffte, dass das Buch tatsächlich noch dort wäre.
Die Stunden bis zum Schulschluss zogen sich wie Kaugummi dahin. Ich konnte mich kaum auf den Unterricht konzentrieren und Luca ging es ebenso. Wir radelten so schnell wir konnten zu dem Haus, an dem die Bücherkiste stand. Jeder, der wollte, konnte sich ein Buch nehmen oder eins dazu stellen. Fieberhaft suchte ich nach dem braunen Einband. Irgendwie waren noch eine Menge weiterer Bücher dazugekommen. Ob das Buch denn noch da war? Endlich, nach scheinbar endloser Suche entdeckte ich es. Da war es! Und ich erinnerte mich wieder an den Titel. Es hieß “Der unglaubliche Zauber der 238 Jahre”. Wir schlugen es gemeinsam auf und waren fassungslos, was auf der ersten Seite stand. Nicolas und Luca, ihr seid hier, um ein großes Abenteuer zu erleben. Und zwar genau JETZT!