Gesellschaftskritik und ihre praktische Wirksamkeit

Lieber PRV,

Du fragst nach weiteren Mitteln, um gesellschaftlicher Maßlosigkeit und Ignoranz entgegenzuwirken – gibt es denn auch andere als die scharfe Kritik, die vielleicht die Schmerzen nur noch vergrößert und deren positive Wirkungen vielleicht aufgrund der Trägheit der Masse zu spät kommen?

So verstehe ich Deine Zeilen.

Ich gehöre selber zu den „scharfen Kritikern“ und hätte bis vor kurzem jeden Satz von Dir teilen können – und bin nun dabei, mich von diesem Ansatz zu verabschieden. Kurz zu meinen Gründen:

Die „Massen“ sehnen sich nach sozialer Verbundenheit, in der Selbstfürsorge und Gemeinwohl ausbalanciert werden. Gerade in unserem Land wurde in der bisherigen Geschichte viel in diesem Sinne getan, sodass die meisten Menschen das Gefühl haben, unsere Sozialsysteme sind nicht so schlecht, unser politisches System wird hoffentlich dafür sorgen, dass es irgendwie weitergeht, zeitweilige Härten müssen überstanden werden. Wir halten zusammen.

Wie gierig, wie maßlos diejenigen kleinen Minderheiten sind, die die Sozialsysteme und die Gutwillligkeit der meisten Menschen ausnutzen, die den Zusammenhalt für sich eigentlich längst aufgekündigt haben und keine Hemmungen haben, die große Mehrheit in den Ruin zu führen, das ist für die meisten Menschen noch kaum in der Erfahrung angekommen. Teile der Jugend sind da sensibler und versuchen ihre Einschätzung, dass es das System selber ist, das uns in den Untergang führt, öffentlich zu vermitteln; sie konzentrieren sich meiner Auffassung nach aber zu sehr auf die Meinung, es seien spezielle Formen der Energiewirtschaft, in denen die große Gefahr sich konzentriere.

Es herrscht übrigens in der Öffentlichkeit eigentlich kein Mangel an Stimmen, die „die Finger in die Wunde“ legen und Zukünfte voller Düsternis entwerfen, aber diese Stimmen haben meist einen bestimmten Dreh. Sie beklagen die Trägheit, die Selbstsucht, die Kurzsichtigkeit „der Massen“, die dem positiven Veränderungswillen der aufgeklärten Kritiker entgegenstehen. „Die Massen“ sind in dieser Sichtweise letztlich selber schuld, wenn ihnen eine schlimme Zukunft bevorsteht.

Nein, „die Massen“ zu beschuldigen führt nicht weiter. Wir alle handeln so, dass wir unser aktuelles Leben unter den gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen und mit dem Arsenal unserer vorhandenen mentalen Konditionierungen optimal bewältigen. Manche Psychologen sagen, das sei hirntechnisch gar nicht anders möglich.

Wir alle haben die Bedingungen unseres Handelns nicht gewählt, weder die äußeren Verhältnisse noch die eigenen Konditionierungen, aber wir können anfangen, uns selber zu befragen und zu verändern. Befragen, inwiefern wir uns selber so verhalten, dass die gesellschaftlichen Spaltungen, das Vergessen der Gesamtverantwortung usf. sich fortpflanzen; verändern, indem wir Verbundenheit bewusst leben und erweitern und mitten in dieser, dem Untergang sich selber weihenden Gesellschaft neue überlebensfähige Strukturen entstehen lassen.

Wer die Dinge beim Namen nennen und die Wunden heilen will, muss in der eigenen sozialen Praxis bessere Verbundenheiten entwickeln und zeigen, als es die trügerisch gewordenen Sozialsysteme können, mit denen die Massen derzeit noch bei der Stange gehalten werden. Der Offene Rote Kreis stellt keine Fragen, die er nicht beantworten kann und erhebt keine Mahnungen, die sowieso nicht befolgt werden, sondern er arbeitet praktisch. Diese seine website dient vor allem dem Austausch über die Praxis, nicht folgenlosen Diskussionen.

CK